Verfolgung
Das Motorrad jagte über die grasbewachsene Ebene. Mit der einen Hand klammerte Kelly sich an Sarah fest, in der anderen hielt sie das Gewehr. Das Lindstradt war schwer, und ihr Arm wurde allmählich müde. Das Motorrad holperte über das unebene Gelände. Der Wind blies ihr die Haare ins Gesicht.
»Festhalten!« rief Sarah.
Der Mond brach durch die Wolken, das Gras schimmerte schwach silbrig in seinem Licht. Der Raptor war 40 Meter vor ihnen, gerade noch in Reichweite des Scheinwerfers. Der Abstand wurde immer kleiner. Abgesehen von der Apatosaurierherde in der Ferne sah Kelly keine anderen Tiere auf der Ebene.
Sie näherten sich dem Raptor. Das Tier lief schnell und mit steif aufgestelltem Schwanz, der über dem Gras gerade noch erkennbar war. Sarah schwenkte nach rechts, als sie den Raptor erreichten. Der Abstand wurde immer kleiner. Sie beugte sich zurück, brachte den Mund nahe an Kellys Ohr.
»Mach dich fertig!« rief sie.
»Was muß ich tun?«
Sie fuhren nun, etwa auf Höhe des Schwanzes, neben dem Raptor her. Sarah beschleunigte, an den Beinen vorbei und auf den Kopf zu.
»Den Hals!« rief sie. »Schieß ihm in den Hals!«
»Wohin?«
»Irgendwo in den Hals!«
Kelly hantierte mit dem Gewehr. »Jetzt?«
»Nein! Warte! Warte!«
Der Raptor geriet in Panik, als das Motorrad sich näherte. Er beschleunigte.
Kelly versuchte, die Finger an den Sicherungshebel zu bekommen. Das Gewehr hüpfte. Alles hüpfte. Sie berührte den Sicherungshebel, rutschte wieder ab. Sie würde beide Hände benützen müssen, und das bedeutete, Sarah loszulassen –
»Mach dich fertig!« rief Sarah.
»Aber ich kann nicht –«
»Jetzt! Tu’s! Jetzt!«
Sarah schwenkte nach links und fuhr im Abstand von nur knapp einem Meter neben dem Raptor her. Kelly konnte das Tier riechen. Es drehte den Kopf und schnappte nach ihnen. Kelly schoß. Das Gewehr ruckte in ihren Händen, und sie umklammerte wieder Sarah. Der Raptor lief weiter.
»Was ist passiert?«
»Du hast danebengeschossen.«
Kelly schüttelte den Kopf. »Macht nichts«, rief Sarah. »Du schaffst es. Ich fahr näher ran.«
Sie schwenkte wieder auf den Raptor zu. Aber diesmal lief es anders: Als sie neben ihm waren, griff der Raptor sie unvermittelt an und stieß mit dem Kopf nach ihnen. Sarah heulte auf und riß den Lenker herum, der Abstand vergrößerte sich wieder. »Gerissene Mistkerle, was?« rief sie. »Lassen einem keine zweite Chance.«
Der Raptor verfolgte sie einige Augenblicke lang, schlug dann plötzlich einen Haken und lief über die Ebene davon.
»Er rennt auf den Fluß zu!« rief Kelly.
Sarah gab Gas. Das Motorrad schoß vorwärts. »Wie tief?«
Kelly antwortete nicht.
»Wie tief?«
»Ich weiß es nicht!« rief Kelly. Sie versuchte sich zu erinnern, wie die Raptoren ausgesehen hatten, als sie den Fluß durchquerten. Sie glaubte, daß sie geschwommen waren. Das hieß, daß der Fluß mindestens –
»Mehr als einen Meter?«
»Ja.«
»Dann geht’s nicht.«
Sie waren jetzt zehn Meter hinter dem Raptor und verloren an Boden. Das Tier war in ein dicht mit großen Palmfarnen bestandenes Gebiet eingedrungen. Die groben Stämme scheuerten ihnen die Haut auf. Das Gelände war uneben, und das Motorrad holperte und schlingerte. »Kann nichts sehen!« rief Sarah. »Halt dich fest!« Sie schwenkte nach links, von dem Raptor weg und auf den Fluß zu. Das Tier verschwand im Gras.
»Was soll das?« rief Kelly.
»Wir müssen ihm den Weg abschneiden!«
Kreischend flog ein Schwarm Vögel vor ihnen auf. Sarah fuhr durch flatternde Flügel, und Kelly zog den Kopf ein. Das Gewehr in ihrer Hand ruckte.
»Aufpassen!« rief Sarah.
»Was ist passiert?«
»Das Gewehr ist losgegangen!«
»Wieviel Schuß habe ich noch?«
»Noch zwei. Die müssen sitzen!«
Vor ihnen schimmerte der Fluß im Mondlicht. Sie schossen aus dem Gras auf das schlammige Ufer. Sarah riß den Lenker herum, das Motorrad brach aus, rutschte weg und schlitterte davon. Kelly fiel in den kalten Schlamm, und Sarah landete mit Wucht auf ihr. Sie sprang sofort wieder auf und rannte zum Motorrad. »Komm«, rief sie Kelly zu.
Kelly folgte ihr benommen. Das Gewehr in ihrer Hand war dick mit Schlamm überzogen. Sie fragte sich, ob es überhaupt noch funktionierte. Sarah saß bereits auf dem Motorrad, drehte am Gasgriff und winkte Kelly zu sich. Kelly sprang auf, und Sarah fuhr am Flußufer entlang.
Der Raptor war 20 Meter vor ihnen. Er lief aufs Wasser zu. »Er entwischt uns!«
Thornes Jeep rumpelte außer Kontrolle den Abhang hinab. Palmwedel schlugen gegen die Windschutzscheibe, und sie konnten nichts sehen, aber sie spürten, wie steil es nach unten ging. Der Jeep brach zur Seite aus. Levine schrie auf.
Thorne hatte das Lenkrad fest umklammert und versuchte, das Auto wieder auf die richtige Spur zu bringen. Ein kurzes Antippen der Bremse, und der Jeep richtete sich aus und fuhr wieder hügelabwärts. Zwischen den Palmen klaffte eine Lücke, und direkt vor ihnen ragte plötzlich eine Ansammlung schwarzer Felsbrocken auf. Die Raptoren kletterten über die Brocken. Aber vielleicht, wenn er nach links ausscherte –
»Nein!« rief Levine. »Nein!«
»Festhalten!« schrie Thorne und riß das Steuer herum. Das Auto verlor die Bodenhaftung und rutschte nach unten. Sie prallten gegen den ersten Felsbrocken, ein Scheinwerfer zersplitterte. Das Auto schnellte hoch, prallte noch einmal gegen Fels. Im ersten Moment glaubte Thorne, die Antriebswelle sei dabei draufgegangen, doch irgendwie funktionierte das Auto noch und fuhr jetzt schräg nach links den Hügel hinunter. Ein Ast zerschmetterte den zweiten Scheinwerfer. Sie holperten durch Dunkelheit, durch weitere Palmenreihen, und plötzlich wurde der Boden eben.
Die Jeepreifen rollten auf weicher Erde.
Thorne hielt an.
Stille.
Sie spähten durch das Fenster hinaus und versuchten, sich zu orientieren. Aber es war so dunkel, daß sie kaum etwas erkennen konnten. Sie schienen sich am Grund eines tiefen, von einem Blätterdach überwölbten Grabens zu befinden.
»Alluviale Konturen«, sagte Levine. »Wir müssen in einem Bachbett sein.«
Als Thornes Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah er, daß Levine recht hatte. Die Raptoren liefen in der Mitte des Bachbetts entlang, das zu beiden Seiten von großen Felsbrocken gesäumt war. Aber das Bett selbst war sandig und breit genug für das Auto. Er folgte ihnen.
»Haben Sie eine Ahnung, wo wir sind?« fragte Levine, ohne die Raptoren aus den Augen zu lassen.
»Nein«, sagte Thorne.
Das Bachbett verbreiterte sich zu einem flachen Becken. Die Felsbrocken verschwanden, nun zeigten sich Bäume an beiden Uferrändern. Hier und dort brach das Mondlicht durch. Sie konnten mehr sehen.
Aber die Raptoren waren verschwunden. Thorne hielt an, kurbelte das Fenster herunter und horchte. Er konnte sie zischen und knurren hören. Es schien von links zu kommen.
Er legte den Gang ein, verließ das Bachbett und fuhr zwischen Palmen und vereinzelten Kiefern hindurch. »Glauben Sie, daß der Junge diesen Abhang überlebt hat?« fragte Levine.
»Ich weiß nicht«, sagte Thorne. »Kaum vorzustellen.«
Sie fuhren langsam weiter und kamen zu einer Lücke zwischen den Bäumen.
Vor ihnen lag eine Lichtung, auf der die Farne plattgetrampelt waren. Hinter der Lichtung sahen sie das Flußufer, Mondlicht schimmerte auf dem Wasser. Irgendwie waren sie zum Fluß zurückgekehrt.
Aber es war die Lichtung, die ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Auf der weiten offenen Fläche sahen sie die gigantischen, bleichen Skelette mehrerer Apatosaurier. Die riesigen Brustkörbe, fahle Knochenbögen, glänzten im Mondlicht. In der Mitte lag die dunkle Masse eines teilweise abgefressenen Kadavers, Myriaden von Fliegen umschwärmten ihn.
»Was ist das?« fragte Thorne. »Sieht aus wie ein Friedhof.«
»Ja«, sagte Levine. »Es ist aber keiner.«
Die Raptoren standen etwas abseits in einem Haufen und kämpften um Eddies Überreste. Am entgegengesetzten Ende der Lichtung sahen Thorne und Levine drei niedrige Erdhügel, deren Ränder an vielen Stellen aufgebrochen waren. In den Nestern konnten sie zerdrückte Eierschalen erkennen. Ein starker Verwesungsgeruch lag in der Luft.
Levine beugte sich mit weit aufgerissenen Augen vor. »Das ist das Raptorennest«, sagte er.
In der Dunkelheit des Caravans richtete Malcolm sich stöhnend auf und griff zum Funkgerät. »Du hast es gefunden? Das Nest?«
Das Funkgerät knisterte. »Ja. Ich glaube schon«, erwiderte Levine.
»Beschreib es.«
Mit ruhiger Stimme beschrieb Levine das Aussehen des Nests und schätzte die Abmessungen. Auf ihn wirkte das Velociraptorennest schlampig, vernachlässigt, schlecht gemacht. Das überraschte ihn, denn für gewöhnlich machten Dinosauriernester einen höchst ordentlichen Eindruck. Levine hatte das schon häufig gesehen, in Ausgrabungsstätten von Montana bis zur Mongolei. Die Eier in den Nestern waren dort immer in präzisen konzentrischen Kreisen angeordnet gewesen. Oft befanden sich mehr als 30 Eier in einem einzigen Nest, was daraufhindeutete, daß mehrere Weibchen einen Erdhügel gemeinsam benutzten. In der Umgebung fand man stets auch zahlreiche Fossilien von Erwachsenen, und das legte den Schluß nahe, daß die Dinosaurier sich gemeinschaftlich um ihre Eier gekümmert hatten. Bei einigen Ausgrabungsstätten bekam man sogar einen Eindruck von der räumlichen Anordnung: Die Nester befanden sich in der Mitte, und die Erwachsenen hatten sich außen herum bewegt, um die reifenden Eier nicht zu stören. In dieser starren Struktur ähnelten die Dinosaurier ihren Nachfahren, den Vögeln, die bei Werbung, Paarung und Nestbau ebenfalls präzise Verhaltensmuster zeigten.
Doch die Velociraptoren verhielten sich anders. Die Szene vor Levines Augen vermittelte einen unordentlichen, chaotischen Eindruck: schlecht geformte Nester, streitende Erwachsene, einige wenige junge oder heranwachsende Tiere, die Eierschalen zerdrückt, die Erdhügel zertrampelt. In der Umgebung der Hügel sah Levine nun wahllos verstreute kleine Knochen, von denen er annahm, daß es die Überreste von Neugeborenen waren. Lebende Neugeborene waren nirgendwo auf der Lichtung zu entdecken. Es gab drei Heranwachsende, aber diese jüngeren Tiere waren gezwungen, für sich selbst zu sorgen, und ihre Körper wiesen bereits viele Narben auf. Sie sahen dünn und unterernährt aus. Vorsichtig drückten sie sich am Rand des Kadavers herum und wichen zurück, sobald ein erwachsenes Tier nach ihnen schnappte.
»Und was ist mit den Apatosauriern?« fragte Malcolm. »Was ist mit den Kadavern?«
Levine zählte vier, in verschiedenen Stadien der Verwesung.
»Das mußt du Sarah erzählen«, sagte Malcolm.
Aber Levine grübelte über etwas anderes nach. Er fragte sich, wie diese riesigen Kadaver überhaupt hierhergekommen waren. Sie waren nicht durch Zufall hier verendet, denn gewiß mieden alle anderen Tiere dieses Nest. Daß man sie hierher gelockt hatte, war auch nicht anzunehmen, und zum Schleppen waren sie zu groß. Wie waren sie also hierhergekommen? Die Antwort lag ihm auf der Zunge, es war etwas Offensichtliches, das er nur noch nicht –
»Haben sie Arby mitgebracht?« fragte Malcolm.
»Ja«, entgegnete Levine. »Das haben sie.«
Er starrte zum Nest hinüber und versuchte, auf die Antwort zu kommen. Plötzlich stieß Thorne ihn an. »Dort ist der Käfig«, sagte er und deutete zum anderen Ende der Lichtung. Zwischen Palmwedeln sah Levine silbrige Stangen hervorblitzen. Der Käfig lag umgestürzt auf der Erde. Aber Arby konnte er nicht erkennen.
»Ziemlich weit weg«, sagte Levine.
Die Raptoren achteten nicht auf den Käfig, sie stritten sich noch immer um Eddies Leiche. Thorne nahm ein Lindstradt-Gewehr zur Hand und klappte das Magazin auf. Er sah sechs Pfeile. »Nicht genug«, erklärte er und klappte es wieder zu. Auf der Lichtung waren mindestens zehn Raptoren.
Levine beugte sich zum Rücksitz und zog seinen Rucksack hervor, der auf den Boden gefallen war. Er öffnete den Reißverschluß und holte einen kleinen silbernen Zylinder etwa von der Größe einer Limoflasche heraus. Ein Schädel und gekreuzte Knochen prangten auf dem Zylinder. Und darunter stand: Vorsicht: giftiges Metacholin (Mivacurium).
»Was ist das?« fragte Thorne.
»Etwas, das sie in Los Alamos zusammengebraut haben«, antwortete Levine. »Es ist ein nichttödliches, lokal wirkendes Betäubungsmittel. Setzt ein kurzfristig wirksames Cholinesterase-Aerosol frei. Lähmt jede Lebensform bis zu drei Minuten. Das haut die Raptoren um.«
»Aber was ist mit dem Jungen?« fragte Thorne. »Sie können das nicht benutzen. Sie werden ihn ebenfalls lähmen.«
Levine zeigte in die Richtung des Käfigs. »Wenn wir den Kanister auf die rechte Seite des Käfigs werfen, weht das Gas von ihm weg und auf die Raptoren zu.«
»Vielleicht aber auch nicht«, sagte Thorne. »Und es kann auch sein, daß er schwer verletzt ist.«
Levine nickte. Er steckte den Zylinder wieder in den Rucksack, drehte sich nach vorne und sah zu den Raptoren hinüber. »Und?« fragte er. »Was machen wir jetzt?«
Thorne schaute zu dem teilweise von Farnen verdeckten Metallkäfig hinüber. Und plötzlich sah er etwas, das ihn sich aufsetzen ließ: Der Käfig bewegte sich leicht, die Stangen wippten im Mondlicht hin und her.
»Haben Sie das gesehen?« fragte Levine.
Thorne erwiderte: »Ich werde den Jungen jetzt da rausholen.«
»Aber wie?« fragte Levine.
»Auf die altmodische Art«, sagte Thorne.
Und stieg aus dem Auto.
Sarah beschleunigte und jagte das Motorrad über das schlammige Flußufer. Der Raptor war direkt vor ihnen, auf seinem Weg zum Wasser kreuzte er diagonal ihre Bahn.
»Schneller«, rief Kelly. »Schneller!«
Der Raptor sah sie und änderte die Richtung. Er versuchte, Abstand zu gewinnen, aber auf dem freien Ufer waren sie schneller. Sie kamen auf gleiche Höhe mit dem Tier, flankierten es links. Sarah steuerte nach rechts und fuhr vom Ufer wieder auf die grasbewachsene Ebene. Der Raptor wich ebenfalls nach rechts aus und rannte tiefer in die Ebene. Vom Fluß weg.
»Sie haben es geschafft«, rief Kelly.
Sarah hielt das Tempo und kam dem Raptor langsam immer näher. Er schien den Fluß aufgegeben zu haben und hatte jetzt keinen Plan mehr. Er lief einfach über die Ebene. Und sie holten stetig und unerbittlich auf. Kelly war aufgeregt. Sie versuchte, den Schlamm vom Gewehr zu wischen, und bereitete sich auf den zweiten Schuß vor.
»Verdammt!« rief Sarah.
»Was?«
»Schau!«
Kelly streckte sich und schaute Sarah über die Schulter. Direkt vor sich sah sie die Apatosaurierherde. Sie waren nur noch 50 Meter vom ersten der riesigen Tiere entfernt, die aufschrien und in plötzlicher Angst herumwirbelten. Im Mondlicht wirkten ihre Körper grün-grau.
Der Raptor rannte direkt auf die Herde zu.
»Er glaubt, er kann uns entwischen!« Sarah gab mehr Gas und verkürzte den Abstand. »Schnapp ihn dir! Jetzt!«
Kelly zielte und schoß. Das Gewehr ruckte. Aber der Raptor lief weiter.
»Daneben.«
Die Apatosaurier vor ihnen drehten sich um, ihre riesigen Beine stampften, die schweren Schwänze peitschten durch die Luft. Aber zum Ausweichen waren sie zu langsam. Der Raptor rannte direkt auf die großen Tiere zu und unter ihnen hindurch.
»Und jetzt?« rief Kelly.
»Wir haben keine andere Wahl!« schrie Sarah und zog mit dem Raptor gleich, während sie in den Schatten des ersten Tieres eintauchten. Kelly sah die Wölbung des Unterbauchs, der einen knappen Meter über ihr hing. Die Beine waren dick wie Baumstämme, und sie stampften und drehten sich dabei langsam.
Der Raptor flitzte zwischen den sich bewegenden Beinen hindurch. Sarah folgte ihm hakenschlagend. Über ihren Köpfen brüllten die Tiere und drehten sich und brüllten noch einmal. Jetzt waren sie unter einem anderen Bauch, dann im Mondlicht, dann wieder im Schatten. Sie fuhren mitten durch die Herde. Es war wie in einem Wald aus sich bewegenden Bäumen.
Direkt vor ihnen klatschte ein großer Fuß mit einer Wucht auf, die die Erde erzittern ließ. Das Motorrad hüpfte, als Sarah nach links auswich, und sie scheuerten am Bein des Tieres entlang. »Festhalten«, rief Sarah, schwenkte noch einmal und jagte wieder hinter dem Raptor her. Die Apatosaurier über ihnen brüllten. Der Raptor schlug noch ein paar Haken und raste dann aus der Herde heraus.
»Scheiße!« rief Sarah und riß das Motorrad herum. Ein Schwanz schwang tief und verfehlte sie knapp, und dann hatten auch sie die Herde hinter sich gelassen und jagten wieder hinter dem Raptor her. Das Motorrad sauste über die grasbewachsene Ebene.
»Letzte Chance«, rief Sarah. »Tu’s.«
Kelly hob das Gewehr. Sarah gab noch einmal Gas und kam dem Raptor sehr nahe. Das Tier wirbelte herum, um ihr einen Kopfstoß zu versetzen, doch sie wich nicht aus, sondern schlug ihm kräftig mit der Faust auf den Schädel. »Jetzt.«
Kelly drückte den Lauf an den Hals des Raptors und feuerte. Das Gewehr schnellte zurück und stieß in ihren Bauch.
Der Raptor rannte weiter.
»Nein!« schrie sie. »Nein!«
Und plötzlich taumelte der Raptor und stürzte kopfüber ins Gras. Sarah wich ihm aus und hielt an. Fünf Meter von ihnen entfernt lag der Raptor zuckend im Gras. Er fauchte und jaulte. Und dann war er still.
Sarah nahm das Gewehr und öffnete das Magazin. Kelly sah noch fünf Pfeile.
»Ich habe gedacht, das sei der letzte«, sagte sie.
»Ich habe gelogen«, sagte Sarah. »Warte hier.«
Kelly blieb beim Motorrad, während Sarah vorsichtig auf den Raptor zuging. Sarah schoß noch einen Pfeil ab und wartete einige Sekunden. Dann bückte sie sich.
Als sie zurückkam, hatte sie den Schlüssel in der Hand.
Auf dem Nestplatz rissen die Raptoren noch immer an der Leiche. Aber ihr Verhalten hatte an Heftigkeit verloren: Einige Tiere wandten sich ab, rieben sich die Schnauzen mit ihren klauenbewehrten Pfoten und trotteten langsam zur Mitte der Lichtung.
Sie näherten sich dem Käfig.
Thorne schob die Plane beiseite und stieg auf die Ladefläche des Jeeps. Er überprüfte das Gewehr in seinen Händen.
Levine rutschte auf den Fahrersitz und ließ den Motor an. Thorne stellte sich breitbeinig hin und hielt sich am hinteren Überrollbügel fest. Dann drehte er sich zu Levine um.
»Los!«
Der Jeep raste über die Lichtung. Die Raptoren bei der Leiche sahen überrascht hoch, als sie den Eindringling bemerkten. Doch der Jeep hatte die Mitte der Lichtung bereits hinter sich gelassen und fuhr an den riesigen Skeletten, den hoch aufragenden Brustkörben vorbei. Dahinter bog Levine links ab und brachte den Jeep neben dem Käfig zum Stehen. Thorne sprang heraus und packte den Käfig mit beiden Händen. In der Dunkelheit konnte er nicht erkennen, wie schwer Arby verletzt war, der Junge lag mit dem Gesicht nach unten. Levine stieg ebenfalls aus, Thorne schrie ihn an, er solle wieder einsteigen, hob dann den Käfig und wuchtete ihn auf die Ladefläche. Dann sprang er selbst hinauf und stellte sich neben den Käfig, und Levine legte den Gang ein. Die Raptoren am anderen Ende der Lichtung fauchten und rannten los, an den Riesengerippen vorbei und direkt auf den Jeep zu. Sie überquerten die Lichtung mit verblüffender Geschwindigkeit.
Als Levine aufs Gas trat, sprang der erste der Raptoren hoch in die Luft, landete auf der Ladefläche des Autos und packte die Leinwandabdeckung mit den Zähnen. Das Tier zischte und hielt sich fest.
Levine beschleunigte, und der Jeep holperte von der Lichtung.
In der Dunkelheit des Caravans versank Malcolm wieder in morphinisierten Träumereien. Bilder tauchten vor seinen Augen auf: »Fitness«-Landschaften, vielfarbige Computerbilder zur Darstellung evolutionärer Phänomene. In dieser mathematischen Welt der Gipfel und Täler sah man Populationen von Organismen »Fitness«-Gipfel erklimmen oder in Täler der Nichtanpassung hinabsinken. Stu Kauffman und seine Mitarbeiter hatten gezeigt, daß hochentwickelte Organismen komplexe interne Beschränkungen aufwiesen, die sie dafür anfälliger machten, von diesen »Fitness«-Optima zu stürzen und in Täler zu sinken. Und gleichzeitig waren komplexe Kreaturen von der Evolution begünstigt. Weil komplexe Kreaturen sich selbständig anpassen konnten. Mit Werkzeugen, durch Lernen, durch Zusammenarbeit.
Aber komplexe Tiere hatten für ihre adaptive Flexibilität einen Preis zahlen müssen – sie hatten eine Abhängigkeit gegen eine andere eingetauscht. Sie hatten es nicht länger nötig, ihre Körper zu verändern, um sich anzupassen, weil jetzt das Verhalten ihre Anpassung war, also sozial bestimmt. Dieses Verhalten erforderte Lernen. In gewisser Weise wurde bei höheren Lebewesen die Fähigkeit zur Anpassung nicht länger über die DNS an die nächste Generation weitergegeben. Diese Funktion übernahm nun das Lehren.
Schimpansen brachten ihren Jungen bei, wie man Termiten mit einem Stock sammelt. Ein solches Handeln setzte zumindest Rudimente einer Kultur, ein strukturiertes soziales Leben voraus. Aber Tiere, die in der Isolation, ohne Eltern und ohne Anleitung aufwuchsen, waren nicht voll funktionstüchtig. Zootiere konnten sich oft nicht um ihren Nachwuchs kümmern, weil sie nie gesehen hatten, wie es gemacht wurde. Sie ignorierten ihre Jungen häufig oder legten sich unachtsam auf sie und zerdrückten sie, oder sie wurden wütend auf sie und töteten sie.
Die Velociraptoren gehörten zu den intelligentesten Dinosauriern, und zu den aggressivsten. Beide Eigenschaften erforderten Verhaltenskontrolle. Vor Millionen von Jahren, in der inzwischen versunkenen Welt der Kreidezeit, war ihr Verhalten wahrscheinlich sozial bestimmt und wurde von den älteren an die jüngeren Tiere weitergegeben. Gene kontrollierten die Fähigkeit, solche Verhaltensmuster zu entwickeln, aber nicht die Muster selbst. Adaptives Verhalten war eine Art Ethik; es war ein Verhalten, das sich über Generationen hinweg entwickelt hatte, weil es sich als erfolgreich erwiesen hatte – Verhalten, das den Angehörigen der Art ermöglichte, zusammenzuarbeiten, in einer Gemeinschaft zu leben, zu jagen und den Nachwuchs aufzuziehen.
Aber die Velociraptoren auf dieser Insel waren in einem Genetiklabor wiedererschaffen worden. Ihre Körper waren zwar genetisch bestimmt, ihr Verhalten jedoch nicht. Diese neu erschaffenen Raptoren kamen in eine Welt ohne ältere Tiere, die sie hätten anleiten und ihnen richtiges Raptorenverhalten zeigen können. Sie waren auf sich allein gestellt, und genau so verhielten sie sich auch – in einer Gesellschaft ohne Strukturen, ohne Regeln, ohne Zusammenarbeit. Sie lebten in einer unkontrollierten Jeder-für-sich-Welt, in der die Gemeinsten und Heimtückischsten überlebten und alle anderen starben.
Der Jeep gewann an Tempo und holperte heftig über unebenes Gelände. Thorne hielt sich am Überrollbügel fest. Hinter sich sah er den Raptor, der, noch immer in die Plane verbissen, in der Luft hin und her baumelte. Levine fuhr auf das flache, schlammige Flußufer, bog rechts ab und folgte dem Wasserlauf. Der Raptor hielt sich beharrlich fest.
Direkt vor sich im Schlamm sah Levine ein weiteres Skelett. Noch ein Skelett? Warum waren all diese Skelette hier? Aber er hatte keine Zeit zum Nachdenken – er konzentrierte sich aufs Fahren und steuerte den Jeep an den hoch aufragenden Rippenreihen vorbei.
Weil beide Scheinwerfer kaputt waren, mußte er sich vorbeugen und die Augen zusammenkneifen, um im Weg liegende Hindernisse erkennen zu können.
Irgendwie schaffte es der Raptor im Heck, auf die Ladefläche zu klettern. Er ließ die Plane los, schlug die Zähne in das Gestänge des Käfigs und begann, ihn von der Ladefläche zu ziehen. Thorne machte einen Satz auf den Käfig zu und packte ihn an seinem Ende. Der Käfig drehte sich und warf Thorne auf den Rücken. Der Raptor spielte eine Art Tauziehen mit Thorne – und schien zu gewinnen. Thorne umklammerte den Beifahrersitz mit den Beinen und versuchte sich so festzuhalten. Der Raptor fauchte; Thorne spürte die nackte Wut des Tiers, die Unerbittlichkeit seines Ringens um die Beute.
»Hier!« rief Levine und streckte Thorne ein Gewehr entgegen.
Thorne lag auf dem Rücken und hielt den Käfig mit beiden Händen fest. Er konnte die Waffe nicht nehmen. Levine drehte sich um und erkannte die Situation. Er schaute in den Rückspiegel und sah, daß die anderen Raptoren sie noch immer fauchend und knurrend verfolgten. Levine konnte also nicht langsamer fahren. Ohne das Tempo zu verringern, drehte er den Oberkörper und richtete das Gewehr nach hinten. Er versuchte, genau zu zielen, denn er wußte, was passieren würde, wenn er durch Zufall Thorne oder Arby traf.
»Aufpassen!« schrie Thorne. »Aufpassen!«
Levine schaffte es, den Sicherungshebel umzulegen, und dann richtete er den Lauf direkt auf den Raptor, der noch immer den Käfig zwischen den Zähnen hielt. Das Tier hob den Kopf und schloß mit einer schnellen Bewegung die Kiefer um den Lauf. Es zerrte an dem Gewehr.
Levine schoß.
Dem Raptor traten die Augen aus den Höhlen, als der Pfeil in seine Kehle eindrang. Er gab ein gurgelndes Geräusch von sich, begann zu zucken und stürzte rückwärts aus dem Jeep – und riß im Fallen Levine das Gewehr aus der Hand.
Thorne rappelte sich auf die Knie hoch und zog den Käfig wieder ins Innere des Autos. Er sah hinein, konnte aber nicht erkennen, wie es Arby ging. Dann hob er den Kopf und sah, daß die anderen Raptoren sie noch immer verfolgten, aber sie waren mittlerweile 20 Meter entfernt und fielen immer weiter zurück.
Das Funkgerät am Armaturenbrett rauschte. »Doc!« Thorne erkannte Sarahs Stimme.
»Ja, Sarah.«
»Wo sind Sie?«
»Fahren am Fluß entlang«, sagte Thorne.
Die Gewitterwolken hatten sich verzogen, und es war eine mondhelle Nacht. Noch immer jagten die Raptoren hinter dem Jeep her. Aber der Abstand wurde beständig größer.
»Ich kann Ihr Licht nicht sehen«, sagte Sarah.
»Wir haben keins mehr.«
Eine Pause entstand. Das Funkgerät knisterte. Dann fragte sie mit angespannter Stimme: »Was ist mit Arby?«
»Wir haben ihn«, sagte Thorne.
»Gott sei Dank. Wie geht es ihm?«
»Ich weiß nicht. Er lebt.«
Das Terrain weitete sich. Sie kamen in ein breites Tal, in dem das Gras silbrig im Mondlicht funkelte. Thorne sah sich um und versuchte sich zu orientieren. Und dann erkannte er, daß sie wieder auf der Ebene waren, aber viel weiter im Süden. Offensichtlich befanden sie sich noch auf derselben Seite des Flusses wie der Hochstand. In diesem Fall mußte es irgendwo links einen Weg hoch zur Gratstraße geben. Diese Straße würde sie auf die Lichtung zurückbringen, zu dem übriggebliebenen Caravan. Und in Sicherheit. Er stieß Levine an, deutete nach links. »Da hinüber.«
Levine bog ab. Thorne drückte die Sprechtaste. »Sarah?«
»Ja, Doc.«
»Wir fahren auf der Gratstraße zum Caravan zurück.«
»Okay«, sagte Sarah. »Wir finden Sie.«
Sarah sah Kelly an. »Wo ist die Gratstraße?«
»Ich glaube, das ist die da oben«, sagte Kelly und zeigte zu dem Grat hoch oben am Abhang.
»Okay«, sagte Sarah und gab Gas.
Durch hohes silbriges Gras rumpelte der Jeep über die Ebene. Sie fuhren schnell. Von den verfolgenden Raptoren war nichts mehr zu sehen. »Sieht aus, als wären wir ihnen entwischt«, sagte Thorne.
»Vielleicht«, erwiderte Levine. Als er das Bachbett verlassen hatte, hatte er gesehen, daß einige Tiere nach links davonstoben. Wahrscheinlich waren sie jetzt irgendwo im hohen Gras versteckt. Er war sich nicht sicher, ob sie so einfach aufgeben würden.
Der Jeep brauste auf die Bergflanke zu. Direkt vor sich sah Levine eine enge Serpentinenstraße, die vom Talboden hochführte. Das war die Gratstraße, da war er sich ziemlich sicher.
Jetzt, da die Fahrt nicht mehr ganz so holprig war, kletterte Thorne wieder auf die Ladefläche und bückte sich über den Käfig. Durch die Stangen hindurch sah er Arby an, der leise stöhnte.
Die eine Gesichtshälfte des Jungen war blutverschmiert, sein Hemd war mit Blut getränkt. Aber er hatte die Augen geöffnet und schien Arme und Beine bewegen zu können.
Thorne brachte den Mund nahe an die Stangen. »He, mein Junge«, sagte er sanft. »Kannst du mich verstehen?«
Arby stöhnte und nickte.
»Wie geht’s denn?«
»Ging schon mal besser«, sagte Arby.
Der Jeep bog auf den Feldweg ein und fuhr die Serpentinen hoch. Je höher sie kamen, je weiter das Tal unter ihnen zurückblieb, desto größer wurde Levines Erleichterung. Endlich war er auf der Gratstraße, und bald würden sie in Sicherheit sein.
Er schaute zum Kamm hoch. Und dann sah er die dunklen Gestalten im Mondlicht, die an der Mündung des Wegs auf und ab hüpften.
Raptoren.
Sie warteten auf ihn.
Er blieb stehen. »Und was tun wir jetzt?«
»Rutschen Sie«, sagte Thorne grimmig. »Ab hier übernehme ich.«